BLODVEGER – NS-Zwangsarbeit in Nord-Norwegen
Wolf Wagner
Vom Menschenfreund zum Kriegsverbrecher
Mein Vater war ein gutwilliger Familienmensch. Ein Menschenfreund sogar. Das wird deutlich aus seinen Briefen, die er im Sommer 1929 von einem Studienaufenthalt in Genf und London an seine Eltern geschrieben hat. Da resümiert er seine Zeit in Genf so: „Ich kann wohl sagen, daß dies Semester sehr lehrreich gewesen ist. Der Horizont hat wieder – so hoffe ich – eine prima Erhöhung erfahren, der Umgang mit gänzlich fremden Elementen, wie Franzosen und deutschen Juden, der manches Vorurteil beseitigen konnte, war unbedingt fortbildend.“ Er ist an Politik nicht interessiert. In keinem seiner Briefe geht er auf die politischen Ereignisse in Deutschland und der Welt ein.
Erst im Krieg ändert sich das ein wenig. Als ein 1907 Geborener wurde er erst 1940 einberufen und nicht an die Front, sondern zur Bewachung von Kriegsgefangenen eingesetzt. Mit seinem in Genf erlernten Französisch wurde er der Abwehr zugeteilt und musste die ein- und ausgehende Post zensieren. Zu den Gefangenen hat er ein gutes Verhältnis.
Mit dem Überfall auf Jugoslawien im April 1941 änderte sich das. Er schrieb einen Brief ganz im Sinne der Rassenlehre der Nazis: „Seit zwei Tagen nehmen wir gefangene Jugoslawen auf. Es ist sehr lehrreich. Viele können nicht lesen und schreiben, manche wissen nicht, wann sie geboren sind, ja einige wissen ihre Namen nicht. Am schlimmsten sind die Mazedonier und Serben. Je nördlicher desto intelligenter. Alle Völker findet man im Süden: Zigeuner, Türken und andere. Braun gebrannt, pfiffig und trotzdem dumm.”
Er bewarb sich um Versetzung in ein frontnahes Lager. Dann galt er als Frontsoldat und erhielt eine bessere Versorgung. Nach dem Überfall auf die Sowjetunion wurde er nach Alytus (Olita) in Litauen versetzt. Dort trafen dann bald die ersten sowjetischen Kriegsgefangenen ein. Am 1.10.1941 schrieb er: „Die Kerle sehen gut aus und sind auch arbeitswillig. Wenn die 10.000 kommen, die wir erwarten, wird das Drama beginnen. Die Verpflegung, die ihnen zugedacht ist, ist verdammt schmal.“
Wenige Tage später, am 10.10. schrieb er einen ersten zynischen Brief:
„Hier ist nichts los. Wir registrieren von morgens bis abends die kläglichen Gestalten. Die Verhältnisse kann man gar nicht schildern. Es ist unvorstellbar. Es sterben uns täglich durchschnittlich 50 Mann. Die Kerle sehen in der Figur wie Kinder aus, sie haben seit Jahren nicht satt zu essen bekommen. Szenen sehen wir täglich, die uns erschüttern müssten, wenn wir nicht dagegen stumpf werden würden.“
Weitere elf Tage später, am 21.10., schrieb er einen schrecklichen Brief. „Von hier nichts Neues. Viel Dienst, kein Sonntag, abends todmüde, da viel im Freien. Jetzt gab es mal wieder Butter und Bier, außerdem Geflügelbraten, ich habe zugenommen. Von den Gefangenen ist auch nichts Besonderes zu berichten. Gestern hatten wir ein Jubiläum, es sind uns gestern seit dem 2.10. 1.000 Mann gestorben. Noch einmal so viel, die übrigen werden dann aber durchkommen. Wir haben jetzt Gefangene zu den Bauern gegeben, sie sind selig. Man muß sich immer wieder vorstellen, daß es besser ist, diese Leute gehen zu Grunde, als daß sich unsere Frauen und Kinder einschränken müssen.“ Er hat damit die nationalsozialistische Sichtweise vollständig verinnerlicht. Zum Wohle der wertvollen deutschen Frauen und Kinder darf man, ja muss man die minderwertigen Slawen opfern.
Nach heutiger Rechtsprechung ist allein die billigende Mitwirkung an einer solchen massenhaften Vernichtung von Menschen ein Kriegsverbrechen. Aus einem Menschenfreund war ein Kriegsverbrecher geworden. Er hätte sich wegbewerben können. Das tat er aber nicht.
Nach einer überstandenen Ansteckung mit dem in den Lagern grassierenden Fleckfieber, war er dagegen immun und wie gemacht für die weitere Bewachung sowjetischer Kriegsgefangener. Er wurde einer Einheit zugeteilt, die beim Bau der Eisenbahnstrecke in Nord-Norwegen die sowjetischen Zwangsarbeiter bewachen sollte. Am 17.10.1943 schrieb er aus der Nähe von Narvik: „Also ich mache hier Dienst als Kontroll-Ufz. Ich habe eine Arbeitsstelle mit 17 Wachen und rund 250 Kgf. zu kontrollieren, d.h. darauf zu achten, ob die Wachen sich richtig verhalten, die notwendigen Vorkehrungen und Sicherungen gegenüber ev. Fluchten oder Unregelmäßigkeiten getroffen haben, Meldungen entgegenzunehmen und überhaupt alles zu veranlassen, was notwendig ist. ….Auch die Kgf. erhalten gute Kost, sie sind ganz zufrieden und arbeiten gut. Sie bauen das Lager aus, machen Wegebau und bereiten den geplanten Hafenbahnbau vor. Die O.T. (Organisation Todt w.w.) leitet das Bauvorhaben. Die meisten Männer sind Kärntner und Steiermärker. Ordentliche Kerle, mit denen gut auszukommen ist.“
Bei Kriegsende wird er beschuldigt, im Mai 1944 bei einer Hinrichtung von geflohenen Kriegsgefangenen selbst geschossen zu haben. Er wurde formell als Kriegsverbrecher angeklagt, von den Briten an die Sowjets ausgeliefert und starb im Dezember 1946 an Entkräftung und Unterernährung, unter nicht ganz geklärten Umständen in einem Gefangenenlager bei Moskau.