von Hanna Sjöberg
In dem Kunstprojekt „I Förvar“ [http://hemligstämplat.nu] haben wir untersucht, wie in Schweden während des Zweiten Weltkriegs mit Flüchtlingen umgegangen wurde. Wir haben auch Polizeiberichte über Flüchtlinge und Grenzverletzungen gelesen. Die Berichte sind sprachlich zurückhaltend und in nüchternem Ton gehalten, obwohl sie häufig äußerst dramatische Ereignisse schildern. Vor allem in den abgelegenen Gemeinden an der Grenze zu Norwegen. Aus dem von Deutschland besetzten Norwegen gelangten viele Flüchtlinge ins neutrale Schweden. Die meisten waren Norweger, aber es waren auch andere Nationalitäten.
In Norwegen hatte die deutsche Besatzungsmacht vor allem in Nordnorwegen ein riesiges System von Lagern für Zwangsarbeit errichtet. Hier wurden 100.000 sowjetische Kriegsgefangene, mehr als 4.000 Gefangene aus Jugoslawien, 1.600 aus Polen, 2.600 deutsche politische und kriminelle Gefangene und etwa 10.000 sogenannte Zivilarbeiter zur Arbeit gezwungen. Von diesen gelang einigen wenigen die Flucht nach Schweden, mehr als 2.000 sowjetischen Kriegsgefangenen und fast 100 Jugoslawen, aber auch Polen und andere.
Hinzu kommt, dass Norwegen 1940, als es von Nazi-Deutschland überfallen wurde, lediglich knapp drei Millionen Einwohner zählte. Während der Besatzung hielten sich 300 000 deutsche Soldaten im Lande auf. Die Landgrenze zwischen Norwegen und Schweden ist 1619 Kilometer lang.
Im Rechercheprojekt „Sprachverwirrung im hohen Norden“ [Neustart Kultur#TakeHeart 2023] habe ich mich geographisch auf die Gemeinden Jokkmokk und Arjeplog konzentriert. Zusammen haben die Gemeinden knapp 8.000 Einwohner, ihre Fläche ist fast so groß wie die der Niederlande. Der westliche Teil besteht aus Tausenden von Quadratkilometern unbewohnter Fläche. Auf der anderen Seite der Grenze, im besetzten Nordnorwegen, gab es mehrere deutsche Zwangsarbeitslager: Mosjøen, Saltfjell, Rognan, Fauske. Hier mussten die Lagerinsassen beim Straßen-, Eisenbahn- und Festungsbau arbeiten.
Im Riksarkivet in Stockholm habe ich Personalakten von jugoslawischen, russischen und polnischen Flüchtlingen studiert. Die zurückhaltende Erzählweise der Protokolle der Grenzpolizei in einem etwas altertümlich und sprachlich überkorrekten Schwedisch, ist sehr nüchtern gehalten in ihrer formalen Neutralität. Bisweilen bekommt der Ton eine groteske Wirkung; etwa diese Angabe zum Vordruck „Einreise nach Schweden und der Grund hierfür“: övergick gränsen enär han ej trivdes med tvångsarbete för tysk räkning / „überquerte die Grenze, weil ihm die Zwangsarbeit im Auftrag Deutschlands nicht behagte.“
In den ziemlich fragmentarischen Protokollen des Bezirkskommissars, die man in den Akten findet, werden oft Verständnisschwierigkeiten erwähnt.
„Es wurde festgestellt, dass Herr Dimowitsch aufgrund von Sprachschwierigkeiten nicht im Detail gehört werden konnte.“
„Herr B. (der Pole Stodolny Bronislaw) spricht Russisch und Deutsch, letzteres nur sehr eingeschränkt. Er konnte daher nicht eingehender befragt werden.“
Die Protokolle sind aber gleichzeitig dichte Erzählungen, die, in nur wenigen Zeilen das Leben der Befragten von Geburt bis Flucht aus dem deutschen Lager und die illegale Überquerung der schwedischen Grenze berichten. Sie lesen sich wie der Vorspann zu etwas noch nicht Erzähltem.
„Protokollvermerk
über den folgenden jugoslawischen Staatsbürgers, der illegal aus Norwegen nach Schweden einreiste und am 18. Juli 1942 in Strimasund in der Gemeinde Tärna ankam, durch Vernehmung an diesem Tag. Der Fotograf Jelec Sefkya, geboren am 21. Mai 1923 in Sarajewo und dort wohnhaft.
Er sei Moslem, habe als Partisan gegen die Deutschen gekämpft und sei am 13. März 1942 in Sarajewo gefangen genommen worden. Nach einigen Tagen sei er über Semond nach Wien gebracht worden, wo er 40 Tage lang festgehalten wurde. Anschließend sei er über Stettin nach Trondheim und von dort nach Mosjöen verbracht worden, wo er am 22. Juni 1942 eintraf.
In Mosjöen war Sefkya mit Straßen- und Festungsarbeiten beschäftigt.
Wahrscheinlich am 8. Juli sind Sefkya und zwei jugoslawische Kameraden aus Mosjöen geflohen. Sie liefen in verschiedene Richtungen und blieben daher unbegleitet.“
In den Protokollen kommen kaum Aussagen über Gewalterfahrungen vor. Aus einer späteren Mitteilung des Bezirkskommissariats Tärnaby erfährt man, dass Jelec Sefkya nach seiner Flucht in der Krankenstation Tärnaby behandelt wurde und „am 3. oder 4. des kommenden August mit einem Krankenwagen nach Stockholm zum Karolinska-Krankenhaus transportiert werden soll“, eine Strecke von fast 900 km.
„Nach einer Mitteilung des hiesigen Karolinska-Krankenhauses ist der letztgenannte jugoslawische Staatsbürger am 4. August 1942 dort eingetroffen und zur Behandlung aufgenommen worden. Er ist jedoch aufgrund von Unterernährung und der erlittenen Strapazen so geschwächt, dass er bis auf weiteres auf eine Isolierstation eingewiesen wurde.“
Die Flucht aus einem deutschen Lager war eine endgültige Entscheidung – eine missglückte Flucht bedeutete den sicheren Tod. Gefangengenommene Flüchtlinge wurden von den Deutschen hingerichtet, oft vor den Augen der anderen Lagerinsassen.
Das Klima war rau, die Kleidung elend, vor allem hatten die Gefangenen kaum brauchbare Schuhe. Sie waren unterernährt und mussten ohne Proviant flüchten. Sie kannten die Umgebung nicht. Die jugoslawischen Flüchtlingen haben berichtet, wie fremd ihnen der Sonnenstand am Polarkreis war – sie konnten sich nicht orientieren.
Sie waren gezwungen, bei Norwegern oder bei Samen um Hilfe zu bitten. Es gab keine gemeinsame Sprache, sie konnten nicht wissen, ob der Norweger oder der Same ein möglicher Verräter war. Und auch die Helfer gerieten durch den Kontakt mit dem Flüchtling in Lebensgefahr. Der Flüchtling könnte ein von den Deutschen ausgesandter Denunziant sein.
Die Flucht aus dem Lager führte ins Ungewisse, in ein Limbo – immer im Bewusstsein, dass die eigene Flucht für die zurückgebliebenen Lagerinsassen ausnahmslos furchtbare Folgen (Rache der Wachen) nach sich zieht. Und es konnte lange dauern, bis man wieder in bewohnte Gegenden in Schweden gelangte.
Von Nordnorwegen war die Flucht nach Schweden erst eine Flucht in einer gewaltigen, einsamen und stillen Einöde. Sie flohen in einer riesigen unbekannten Landschaft. Nicht wenige sind auch hinter der Grenze umgekommen.
*
„Donnerstag, den 8. Juli 1943
Fall: Leiche eines serbischen Flüchtlings.
Am Samstag, den 3. Juli 1943, wurde der regionale Polizeichef in Jokkmokk darüber informiert, dass drei serbische Gefangene als Flüchtlinge in Tarrajaur in Regierungsbezirk Jokkmokk angekommen waren. Sie waren aus einem Lager in Norwegen geflohen und hatten die norwegischen Fjälls überquert. Bei der Vernehmung gaben sie an, dass 6 von ihnen gemeinsam geflohen waren, einer beschloss, vor dem Überqueren der schwedischen Grenze umzukehren, und 2 Kameraden wurden tot in den Bergen zurückgelassen.
Da anzunehmen war, dass die beiden Toten von den Angekommenen getötet worden sein könnten, fuhren die Polizisten noch am selben Tag von Jokkmokk nach Tarrajaur, um die Flüchtlinge zu befragen. Danach, am 4. und 5. Juli, befragte derselbe Polizist die Flüchtlinge vor Ort in dem von den Flüchtlingen beschriebenen Gebiet, in dem sie die toten Gefangenen zurückgelassen hatten.
Sie gaben an, dieser Ort liege in der Nähe des Samojaursees in Rovejaur. Zusammen mit den Bergführern Nils und Magnus Holb aus Njunjes machte ich mich zu Fuß auf den Weg zu diesem Ort. Nach langer Suche fanden wir in der Nacht des 5. Juli einen Toten, der zwischen einigen Felsen lag. Für uns sah es so aus, als sei er an Erschöpfung und Kälte gestorben. Trotz einer sorgfältigen und langen Suche konnten wir keine Spur des anderen Toten finden. Im Beisein der genannten Bergführer untersuchte der Unterzeichnete die Leiche und die Kleidung.
Dabei wurde festgestellt, dass es keine Anzeichen von Gewalteinwirkung gab, alle Gliedmaßen waren unbeschädigt und alle Gelenke normal. Die Leiche war ohne Schuhe, die Füße in Lumpen gewickelt. Über der dünnen Baumwollunterwäsche trug er eine dünne Militäruniform, die keine besonderen Merkmale aufwies. Auf dem Kopf trug er eine Militärmütze nach einem Bergmodell. Es gab sichtbare Blutspuren im Gesicht, an den Händen und an der Kleidung, aber es wurde zweifelsfrei festgestellt, dass dieses Blut aus seiner Nase kam, die unbeschädigt war, und daher war zu vermuten, dass dieses Blut aufgrund der Anstrengung aus seiner Nase stammte. Am ganzen Körper befanden sich rote Punkte, die vor allem an der Außenseite der Hüfte, des unteren Rückens und des Penis sichtbar waren. Die Augen waren geöffnet. Die Pupillen waren sehr klein, und es hat den Anschein, dass es keinen Todeskampf gab.
In den Taschen wurde nichts von Wert gefunden. In den Taschen fanden wir Brotkrümel und Reste von Farn und Wacholder, woraus wir schlossen, dass er dies tatsächlich gegessen hatte. In seinen Taschen wurden keine Wertsachen oder Geld gefunden. Um seinen Hals trug er eine Kette mit einer Kennzeichnung, auf der stand: “Stalag XVIIB.76319”. Dies ist das einzige Zeichen, anhand dessen der Tote identifiziert werden kann.
Nachdem wir nach Jokkmokk zurückgekehrt waren, wurde ein weiteres Gespräch mit dem Serben Ciric geführt. Er war der einzige der drei, mit dem eine Verständigung möglich war. Während des Verhörs gab Ciric an, dass er und fünf andere Serben am Sonntag, den 27. Juni, aus dem Gefangenenlager in der Nähe von Rognan in Norwegen geflohen waren. Bei ihrer Flucht hatten sie weder Lebensmittel noch Karte oder Kompass dabei. Nachdem sie mehrere Tage auf norwegischem Gebiet gegangen waren, beschloss einer der Gefangenen aufgrund seiner Erschöpfung, dort zu bleiben. Die anderen gingen weiter in Richtung Schweden. Am Freitag, dem 2. Juli, konnten zwei der verbliebenen Gefangenen ihnen nicht mehr folgen.
Aufgezeichnet von Torstein Gustavson, Jokkmokk
Protokoll Bezirkskommissariat in Jokkmokk
Polizeibehörde Jokkmokk